Sprechsituation / Subjektivität

Der Text ist von der Koexistenz zweier Sprechinstanzen geprägt: das ”Je” des ”J’étais au bord du Rhin...” (”Guillaume Apollinaire”) und das ”Je” des ”je t’envoie cette carte...” (-> frère Albert).

Das Verhältnis der beiden Sprecher zueinander in einer ”Lettre-Océan möglicherweise zu Grunde liegenden lebensweltlichen Kommunikationsform kann folgendermaßen rekonstruiert werden:

-> Albert befindet sich in Mexiko-Stadt und gibt möglicherweise einem Spanier namens -> Juan Aldama, der mit der -> ”Espagne” nach Europa fahren will, um sich dort einzuschiffen, seine Ansichtskarte an den Bruder mit, da der normale Postweg nach -> Veracruz durch die amerikanische Belagerung nicht sicher genug ist. Wohl ebenfalls wegen der amerikanischen Besetzung von Veracruz müssen sich die Passagiere der Ozeanlinien nicht dort, sondern in -> Coatzacoalcos weiter südlich einschiffen (möglicherweise wird aber die Karte dann nicht mit der ”Espagne”, sondern – geht man nach dem Poststempel – mit der -> ”Ypiranga” auf ihrem Weg über die USA nach Europa befördert).

Die Abwesenheit von Sprechermarkierungen im Text lässt darauf schließen, dass es kein einheitliches, zentralisierendes Bewusstsein (etwa das von Guillaume Apollinaire) mehr gibt, dem die Rede des Bruders als nur zitierte hierarchisch untergeordnet wäre, sondern dass es sich vielmehr um ein collageartiges unhierarchisiertes Nebeneinander von Stimmen handelt.

Interessant ist vor allem das Verhältnis lyrischer Subjektivität zur medialen Sendung bzw. zum medialen Empfang. Wie Apollinaire selbst für die so genannten Konversationsgedichte behauptet, fungiert in ihnen der Sprecher als zentrale Instanz der ”Aufnahme” umgebender Gesprächsfetzen (”poèmes-conversation où le poète au centre de la vie enregistre en quelque sorte le lyrisme ambiant”, simultanisme-librettisme”, -> Oeuvres complètes en prose, Bd. 2, 976; vgl. auch -> Simultanismus). Die Sprechsituation wäre pragmatisch damit noch an einen bestimmten räumlichen, zeitlichen und subjektiven Ursprungspunkt angebunden (wie z.B. ein Zuhörer an einem bestimmten Tag auf einer Café-Terrasse in ”Lundi rue Christine”; vgl. aber kritisch zu dieser Annahme einer einheitlichen Origo bereits -> Daellenbach).

Die Annahme einer Ich-, Hier- und Jetzt-Deixis hat auch bei ”Lettre-Océan” zu der Deutung geführt, im Zentrum des ersten Kreises auf der linken befinde sich Guillaume Apollinaire selbst, der sich als ”Empfänger” von Nachrichten verstehe (vgl. z.B. -> Daniels, Kunst als Sendung, 128, unter Berufung auf W. Bohn: ”Aber wie eingehendere Interpretationen gezeigt haben ist es der Dichter selbst, der hier in der Nähe des Turms an der Rive gauche vor der Brücke von Iéna inmitten einer Menschenmenge steht.”). Damit wäre die Position des ”poète” inmitten des ”lyrisme ambiant” restituiert.

Auch wenn diese Deutung mit der Beobachtung übereinstimmt, dass bezüglich der -> graphischen Gestalt des Gedichts die erste, linke Eiffelturm-Darstellung möglicherweise den Fuß des Eiffelturms und eine dort versammelte Menschenmenge, der rechte Kreis dagegen die Funkstation an der Spitze des Eiffelturms darstellt, wird doch das medientheoretische Potenzial des Textes verfehlt, wenn man allzu schnell wieder ein herkömmliches Bewusstsein als Origo deklariert. Interessant scheint vielmehr, dass bereits in den früheren Konversationsgedichten und ihrer Poetik das ”aufnehmende” Bewusstsein Züge eines technischen Apparats bekommt, der Dinge aufnimmt, die sich mit normalen menschlichen Ohren gar nicht wahrnehmen oder zumindest nicht in dieser Form speichern lassen (vgl. die von -> Daniels, Kunst als Sendung, 128, bemerkten Experimente von G.-P. Fauconnet mit der maschinellen oder zumindest maschinenartigen Aufzeichung von Gesprächen in den Soirées de Paris; vgl. zur lyrischen Subjektivität bei Apollinaire als Phantasma von Ubiquität auch Joëlle de Sermet, ”L‘adresse lyrique”: De Sermets Kategorie des Subjekts als ”infra-énonciateur” kann vor dem Hintergrund von Wellen-und Übertragungstheorien medientheoretisch fruchtbar gemacht werden).

”Lettre-Océan” spinnt die medial erweiterte subjektive ”Empfänglichkeit” für Botschaften (vgl. auch die generelle technische Eignung eines Menschen, der eine Eisenkonstruktion berührt, als Empfänger von Radiowellen (-> Eiffelturm)) zu einem Phantasma fort, bei der ein menschliches Sender-Empfängermodell durch ein maschinelles supplementiert wird. Das bedeutet jedoch gerade nicht das völlige Verschwinden von Subjektivität, sondern ein Phantasma ihrer medialen Erweiterung, die z.B. in dem Kriegsgedicht ”2e canonnier conducteur” zu einer theologisierenden Überblendung von Subjekt und Eiffelturm als Sender führt: Durch Buchstaben wird ein Eiffelturm im Profil dargestellt - der entsprechende Text lautet (Leserichtung von oben nach unten): ”Salut monde dont je suis la langue éloquente que sa bouche o Paris tire et tirera toujours aux allemands.” Die Gegenbewegung zu dieser patriotischen Pfingst-Phantasie (vgl. dazu Stierle sowie -> Theologie des Raums) stellt allerdings die Dissemination von Botschaften zu einem Babel des unzusammenhängenden Sprachengewirrs oder, in medialer Zuspitzung, zu bloßem kommunikativem Rauschen dar (vgl. -> Sirènes).

Die Idee der Ubiquität des Ich-Sprechers taucht bereits in den Alcools-Gedichten in nahezu obsessiver Weise immer wieder auf. Besonders interessant gestaltet Apollinaire die Idee der Ubiquität in dem Gedicht "Vendémiaire", in dem der Ich-Sprecher sich in einem gigantischen Opferritual alle Städte der Welt in Form ihrer Gesänge und ihrer Worte einverleibt, um daraus seinen eigenen Gesang zu erschaffen (Vgl. -> Krenzel-Zingerle, S. 238ff). Apollinaire läßt in der Programmschrift "L'esprit nouveau et les poètes" keinen Zweifel daran, daß die Vorstellung der Ubiquität des Dichters sich aus den Möglichkeiten der neuen Medien speist. Die neuen Dichter beschreibt er als "chefs d'orchestre d'une étendue inouïe, ils auront à leur disposition: le monde entier, ses rumeurs et apparences (...) Nous pouvons donc espérer, pour ce qui constitue la matière et les moyens de l'art, une liberté d'une opulence inimaginable. (...) Dans le domaine de l'inspiration, leur liberté ne peut pas être moins grande que celle d'un journal quotidien qui traite dans une seule feuille des matières les plus diverses, parcourt des pays les plus éloignés. On se démande pourquoi le poète n'aurait pas une liberté au moins égale et serait tenu, à une époque de téléphone, de télégraphie sans fil et d'aviation, à plus de circonspection vis-à-vis des espaces."