Medienkonkurrenz

Bei Apollinaire werden folgende Medientechniken der Übertragung in der Abfolge ihres historischen Erscheinens auf énoncé-Ebene eingebracht:

- Stimme (z.T. in medialer Verstärkung durch drahtlose Telegraphie, z.B. in “Ta voix me parvient malgré l‘énorme distance”; z.T. in unverstärkter Form in den verschiedenen Ausrufen, die im öffentlichen städtischen, jedoch nicht unbedingt zeitgenössischen Raum sowie wohl nicht nur in Paris zu verorten sind: “Vive la République” “Arrêtez cocher”, “Vive le Roy”, “Evviva il Papa” etc.; evt. auch -> “sirènes”); vgl. als -> Intertexte die “poémes-conversation”

- Briefverkehr: Briefe aus Übersee sind zur Zeit Apollinaires – abhängig von der Dauer der Linienschifffahrten – mit denen sie transportiert werden, mindestens zwei Wochen unterwegs, wobei die Briefe von Mexiko nach Europa teilweise den Weg über die USA nehmen (so erklärt sich der Poststempel “US Postage 2 cents 2”; vgl. auch -> Ypiranga)

- Telegraphie per Draht (entwickelt ab ca. 1832 durch Morse, in Verbindung mit einem Schreibtelegraphen und als Code dem so genannten Morsealphabet; zwischen Europa und Amerika wurde 1865/66 das transatlantische Tiefseekabel verlegt – eine Verbindung, die auch zu Apollinaires Zeit noch Bestand hatte (vgl. im Text: “le cablogramme comportait 2 mots EN SURETÉ”; vgl. als -> Intertext: “Liens”).

- Phonographie: Entwicklung ab 1876 durch Edison zur Aufzeichnung und Speicherung von Schallwellen, v.a. menschlicher Stimmen ; zeitgleich wurde auch von Bell das Telefon zur kabelgestützten Übertragung von Schallwellen entwickelt (vgl. im Text : “gramophones” (-> Graphische Gestalt, rechter Kreis); evt. auch -> “sirènes”); vgl. -> Intertext: “Arbre”

- Drahtlose Telegraphie: seit ca. 1895 infolge der Versuche von Marconi u.a.; Signale werden dabei nicht vermittelt über ein eigenes Zeichensystem, sondern in direkter Aufzeichnung von Schallwellen (vgl. die Erfindung des Phonographen) übertragen, sodass beispielsweise auch die Übertragung von Musik per Funk und somit die Entwicklung des Radios möglich wird (vgl im Text: “TSF”)

- Entgegen der These von D. -> Daniels, nach der Lettre-Océan die von utopischen Zügen geprägte Synthese bisheriger Medien unter dem vereinheitlichenden Dach der drahtlosen Telegraphie darstellt (so sein Fazit, Kunst als Sendung, 130), wird Medienkonkurrenz bei Apollinaire vielmehr als eine offene, historisch ungerichtete inszeniert : Bezieht man die graphisch-symbolische Verdoppelung der Darstellung, (vgl. -> Zwei<) die die énonciation von “Lettre-Océan” prägt, in die Interpretation mit ein, so entstehen dabei teilweise technisch nicht realisierbaren Konstellationen (vgl. -> Katachrese): Beispielsweise wird der Eiffelturm auf der graphischen Ebene zum Sender/Empfänger von symbolisch dargestellten mündlichen und teils längst vergangenen Botschaften (vgl. “Vive le Roy” mit archaisierender Schreibung ; vgl. als aktualisierenden Bezug allerdings auch die Anspielung auf Eugène Le Roy : -> Vive le Roy). Allenfalls im typographischen Raum des Kalligramms mit seiner ikonisch-symbolischen Doppelstruktur können beide Medientechniken nebeneinander treten, nicht aber in einem technischen Raum.

- Aus dem typographischen Nebeneinander von medientechnisch sonst nicht synthetisierbarem Material leitet sich ein theologischer Anspruch Apollinaires (vgl.-> Theologie des Raums) bei der Besetzung des Schriftraums her. Dabei beruht aber der momenthaften Genuss der Koinzidenz von verschiedensten Botschaften in einer Welt-Telegraphie (das medial inszenierte Pfingsten) faktisch auf einer Auflösung distinkter Zeichenbedeutungen zugunsten intensiver lautlicher Materialitäten (dem Babel des phono- und telegraphischen Rauschens, vgl. -> Sirènes). Es geht also bei Apollinaire mitnichten um eine triumphale Selbstinszenierung der graphisch erweiterten Literatur zum Über-Medium, sonder um eine Auslotung der Konsequenzen neuer Medientechniken für die literarische Bedeutungskonstitution überhaupt. Sich auf dem Umweg über die medienimmanenten Differenzen auf der typographischen Druckseite für die Wahrnehmung intermedialer Differenz zu öffnen, heißt für ihn, sich der Gefahr vollständiger Bedeutungszersetzung zu stellen und gleichzeitig zu versuchen, diesen riskanten Moment in feste Konstellationen zu überführen. Die typographische Fixierung kann hierfür unter Umständen eher als die handschriftliche Offenheit der Manuskripte einen geeigneten Rahmen abliefern (vgl. -> Textgenese).